Die vielen Formen der Liebe
Welche Art von Liebe steht in Ihren Beziehungen zumeist im Vordergrund? Ist es die leidenschaftliche Liebe, die uns süchtig macht und oft mit unserem Selbstwertgefühl in Verbindung steht? Oder haben Sie sie schon gefunden: die Liebe, die etwas ruhiger daher kommt, aber in der Sie genauso so sein können wie Sie sind und sich in erster Linie verbunden, vertraut, sicher, entspannt und gesehen fühlen?
Text aus dem Buch „Das Glück, so sein zu dürfen, wie ich bin" von Ronald D. Siegel

Bild: Morgan Rowang auf Unsplash.com
Die alten Griechen nannten die leidenschaftliche, süchtig machende Liebe – die, die unsere Belohnungszentren feuern lässt, sich wie eine Achterbahn anfühlt und so eng mit unserem Selbstwertgefühl zusammenhängt – Eros. Sie hatten einen Gott desselben Namens, Sohn der Aphrodite, der Göttin der sexuellen Liebe und der Schönheit. Eros (oder Cupido, wie ihn die Römer nannten) war ziemlich boshaft und machte damals so wie heute Göttern und Sterblichen eine Menge Probleme, weil er seine Pfeile wahllos in arglose Herzen schoss.
Folgendes hat sich herausgestellt: Wenn Menschen in einer leidenschaftlichen romantischen Liebesbeziehung stecken, zeigen sie mehr Aktivität in einer Gehirnregion namens posteriorer zingulärer Kortex (PCC), die mit ego-zentriertem, bewertendem Denken assoziiert ist. Eros ist also ganz schön selbst-zentriert – was wiederum dazu passt, dass er so eng mit unserem Selbstwertgefühl zusammenhängt. Wir denken viel an unseren romantischen Liebespartner, aber so wie bei anderen Abhängigkeiten gibt es oft einen unausgesprochenen, ja sogar ungesehenen Subtext: Was kannst du für mich tun?
Alle anderen von den Griechen beschriebenen Arten der Liebe sind Wege zu einer sicheren Verbundenheit. Dazu gehören die Zuneigung zwischen Eltern und Kindern, die Liebe in einer Freundschaft sowie die agape, die selbstlose Liebe, die allen Menschen entgegengebracht wird – und die in der christlichen Tradition zur Gottesliebe wie auch zu Gottes Liebe für uns wird. Diese Arten der Liebe sind es, die (in verschiedenem Maße) in Beziehungen aktiviert werden, die nicht so an unser Selbstwertgefühl gekoppelt sind.
In Studien hat sich gezeigt, dass sowohl Mütter, die für ihre Kinder sorgen, wie auch nicht-obsessiv Liebende weniger Aktivität im posterioren zingulären Kortex aufweisen, wenn sie an ihre Kinder oder Liebespartner denken. Und wenn Menschen die Meditation der liebevollen Güte praktizieren, in der sie liebevolle Gefühle erzeugen, indem sie anderen Gutes wünschen, dann werden die durch die leidenschaftlich romantische Liebe aktivierten Belohnungspfade beruhigt. Es sieht so aus, dass wir auf eine Art lieben lernen können, die weniger süchtig machend ist, weniger auf uns selber fixiert, befriedigender ist – und zu weniger Verrücktheiten führt.
Das soll alles keineswegs heißen, dass romantische Liebe oder Sex nicht Spaß machen oder aufregend sein sollen oder können. Es geht nur darum, dass sie, wenn wir die Sorge um unser Selbstwertgefühl ein wenig mäßigen können, eine Gefühlsqualität tieferer und dauerhafterer Verbundenheit bekommen.
Welche Rolle haben Probleme des Selbstwertgefühls in Ihren intimen Beziehungen gespielt? Haben Sie Wege zu tieferer Geborgenheit und Verbundenheit gefunden?
Übung: Liebe und Selbsteinschätzung trennen
Nehmen Sie sich zunächst einen Moment Zeit, die Augen zu schließen, sich achtsam dem Atem zu widmen und Ihre Aufmerksamkeit in die Gegenwart zu bringen.
FRÜHE LEIDENSCHAFT
Denken Sie nun an eine Ihrer ersten, leidenschaftlichsten Liebesbeziehungen zurück (ja, genau die!). Erinnern Sie sich, wie Ihre Gefühle sich veränderten, als der/die Liebste Interesse an Ihnen zeigte. Was waren zu jener Zeit die Bausteine Ihres Selbstwertgefühls? Was waren Ihre größten Unsicherheiten? Was geschah mit diesen Unsicherheiten, als Ihr(e) Partner(in) Zuneigung zeigte?
Erinnern Sie sich nun, wie es war, als der/die Liebste Ihnen gegenüber wütend war, abweisend oder gleichgültig. Was passierte mit Ihrem Selbstgefühl? Was passierte mit Ihren Unsicherheiten?
ANDERE LIEBE
Schauen Sie nun, ob Sie sich an eine intime Liebesbeziehung erinnern können, in denen die Sorge um das Selbstbild eine kleinere Rolle spielte. Erinnern Sie sich, wie Sie sich und was Sie bei diesem Menschen fühlten. Was zog Sie zu der Beziehung hin? Was stieß Sie ab? Wie fanden Sie sich selbst, als Sie in dieser Beziehung waren? Wie fanden Sie sich selbst, wenn der/die Liebste Ihnen gegenüber wütend war, abweisend oder gleichgültig? Inwiefern war diese Beziehung anders?
IHRE LIEBE HEUTE
Sind Sie derzeit in einer Liebesbeziehung? Spielen Ihre Selbstwertprobleme dabei eine Rolle? Finden Sie sich mächtig toll, wenn Sie an das Zusammensein denken? Wenn Sie denken, Ihr(e) Partner(in) sei nicht so toll oder eher enttäuschend, haben Sie dann das Gefühl, Sie würden "abgespeist"?
Intime Verbundenheit nähren
Tut mir leid, dass ich diese Hiobsbotschaft überbringen muss, aber: Wenn in Ihrer derzeitigen Beziehung Selbstwert-Probleme eine zentrale Rolle spielen, werden am Ende alle enttäuscht sein.
Das heißt aber nicht unbedingt, dass Sie mit der falschen Person zusammen sind. Wir werden die Sorge um unser Selbstwertgefühl nicht abtöten – sie ist biologisch verankert. Und wir würden nicht mit einem Partner oder einer Partnerin zusammenleben wollen, der oder die uns im großen Ganzen nicht wertschätzen und respektieren würde. Aber es kann sehr befreiend sein, ganz bewusst die Aspekte einer Beziehung zu nähren, die sichere Verbundenheit schaffen, statt unser Ego aufzubauen.
Zwar ist jedes Paar anders, aber es gibt zuverlässige Mittel und Wege, mit Herz, Kopf und Lebensgewohnheiten zu arbeiten, die es uns erleichtern, dauerhafte und befriedigende Verbundenheit zu entdecken.